Ich bin klein. Die Welt ist noch heil. Ich stapfe durch den hohen Schnee im Gärtchen vor der Mietskaserne, hangle mich an der vereisten Wäschestange hoch und spüre, dass mein neues, rotes Käppchen feucht wird. Es ist der 26. Dezember.

Im ersten Stock geht ein Fenster auf, Mutter ruft. Erfreut, wie mir scheint. Treppe hoch, es gibt Grund zum Jubeln. Die Heimanns von nebenan haben uns auf heute Abend zu einem Aperitif eingeladen und werden für und mit uns noch einmal die Kerzen am Weihnachtsbaum anzünden. Mutter strahlt. Herr Heimann ist Bundesbeamter. Mein Vater nur Kantonsbeamter. Frau Heimann hat eine Nerzstola, wie sie meine Mutter gerne hätte.

Um 18 Uhr geht’s im Gänsemarsch rüber zu Heimanns. Willkommensgrüsse, Verdanken der Einladung. Kurzes Gedränge im engen Korridor, dann werden wir ins Wohnzimmer komplimentiert, wo sich der Hausherr in den Chefsessel wirft. Die Gäste sehen sich höflich um, meine Mutter übernimmt den mit «Ah» und «Oh» punktierten Begeisterungsausbruch über den edlen und wunderschön dekorierten Weihnachtsbaum: «…diese Kuuugel, sicher böhmisch und handgeblasen…».

Dann dürfen wir uns setzen. Meine Eltern aufs Sofa, Frau Heimann auf den zweiten Sessel neben Herrn Heimann. Sohn René und ich werden zwischen das zugehörige Elternpaar auf Kinderstühle platziert. René ist gleich alt wie ich. Brave Einzelkinder, die wir sind, verhalten wir uns still und reden nur, wenn wir angesprochen werden. Was an diesem 26. Dezember kaum der Fall ist.

Jetzt sind wir gemütlich um den gläsernen Salontisch gruppiert. Herr Heimann zieht eine kubanische Zigarre aus seiner modischen Weste, schneidet sie elegant an und saugt intensiv daran. Siegelring und Uhrkette funkeln im Licht der Ständerlampe.

Frau Heimann fängt einen bedeutungsvollen Blick ihres Mannes auf, schnellt – soweit ihre Leibesfülle dies zulässt – hoch und schiebt feierlich den riesigen Mahagony-Servierboy über den Perserteppich. Dicht an dicht scheppert leise das Flaschen-Sortiment. Gemixt wird im silbernen Shaker. Das Eis kullert in die Cocktailgläser und knackt. Es wird angestossen. Edel und voll der Klang des Kristalls. Ich bohre mit dem Finger in einem kleinen Loch in meiner gestrickten grauen Strumpfhose und wünsche mir, mit dem Shaker hantieren zu dürfen. Meiner Mutter ist am Gesicht abzulesen, dass sie an ihren kleinen Servierboy aus Eiche denkt, auf dem einige wenige Flaschen aus dem Konsum Platz finden.

Herr Heimann gerät in Fahrt, soweit sich dies von einem gediegenen Herrn sagen lässt, der mit erlesenen Worten artige Satzreihen baut, rund um Schlüsselworte wie «wir im Bundeshaus», «wie Bundesrat Chaudet zu sagen pflegt…», und «in meiner Funktion».

Mein Vater ist ein schweigsamer Mensch. Er plaudert nicht gern und ist fürs Tanzen nicht geschaffen. Sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Aber jetzt, am 26. Dezember gegen 19 Uhr, sieht er ernsthaft verdrossen drein. Herr Heimann hat eben festgestellt, dass er die Bevölkerung der Schweiz über die Feiertage nur ungern im Stich lässt, wo sie doch so sehr auf seine Dienste im Bundeshaus angewiesen sei. Sein Amt würde erfordern, dass er auch heute seine Funktion wahrnehmen müsste. Aber eben, diese gesetzlich festgelegten Feiertage seien ein Fluch… Er seufzt.

Frau Heimann schlägt nun munter vor, die Kerzen am Weihnachtsbaum anzuzünden. Klein René darf ihr dabei behilflich sein. Dann wird die Ständerlampe ausgeschaltet, René und Frau Heimann setzen sich wieder. Wir sind alle ergriffen. Die Kerzen leuchten, die Kugeln funkeln und unter dem Baum liegt Jesus in der Krippe (böhmisch).

Herr Heimann hebt an, die aktuelle politische Lage der Schweiz zu sortieren, Mutter und Frau Heimann geben anerkennende Laute von sich, mein Vater ist stumm wie ein Fisch.

René und ich verstehen von all dem nichts. Wir beobachten. Auch stumm. Ich sehe, dass der Weihnachtsbaum nicht ganz geradesteht, sondern gegen eine Kommode lehnt, auf der Zeitungen aufgetürmt sind.

Herr Heimann doziert, Vater schweigt. Die Frauen gluckern wie Muttervögel, um Harmonie zu verbreiten.

Ich bestaune den Baum. Ein Kerzlein verbreitet seinen Schein weit, weit über seine Reichweite hinaus. Dann ein zweites, ein drittes. Sehe ich richtig? Der Zeitungsstapel verschmilzt mit dem Baum, Funken stieben gegen die Decke.

René sieht mich an und rollt die Augen. Ich auch.

Und schon lodert es. Die brennenden Zeitungen speisen das Feuer der Kerzen und die Kerzen zünden die nicht mehr so grünen Nadeln an und der ganze Baum steht in Flammen.

Im Raum Sekunden gelähmter Stille.

Herr Heimann läuft puterrot an, reisst sich die Kravatte vom Hals und schreit: «Dieser Scheiss - Baum. Habe ja gesagt, dass der schon dürr ist. Aber du hast natürlich sparen müssen, Henriette, damit ich dir noch mehr Pelz ans Füdle hängen kann, tammisiech. Ich hab den ganzen Scheissdreck satt.»

Unterdessen hat mein Vater den brennenden Baum mit dem Korridor-Teppich (kein Perser) umhüllt und die Flammen erstickt. Wortlos.

Herr Heimann meint, zitternd und immer noch rot im Gesicht: «Wir können uns jetzt auch duzen. Ich bin der Werner». Und seine Gattin sei die Henriette. Auch meine Eltern bieten ihre Vornamen an, was nicht die Art meines Vaters ist.

Bevor wir uns verabschieden – Möbel und Teppich versengt, der Baum aus dem Fenster geworfen – zeigt sich mein Vater überraschenderweise amüsiert. Der Kantonsbeamte hat einen Draht zum Bundesbeamten gefunden.

Denn die Heimanns animieren ihn fortan zur Erforschung der menschlichen Natur Er hat sich schon lange gefragt, weshalb einer, der mit Bundesräten auf Du und Du ist, in einer Mietskaserne wohnt. Und ist fündig geworden.

Herr Heimann ist ein subalterner Beamter, der in einem düsteren Verschlag an der Bundesgasse mit drei andern Beamten die Aufgabe hat, mit dem Zentimeterband auf einer Landkarte Streckenabschnitte der SBB zu messen, damit klügere Köpfe daraus die Fahrtarife berechnen können.

Wissen ist Gold.

Der silberne Cocktail-Schüttelbecher vom 26. Dezember war übrigens aus Blech.

Die Heimanns und meine Eltern bleiben vage befreundet bis ans Lebensende.