eins

Das Einmachglas kollerte die Holztreppe hinunter und musste – einem einfachen physikalischen Gesetz folgend – auf dem harten Steinboden des Kellers bersten. Aus den Scherben zappelten graugrüne Gurken wie sterbende Fische hervor. Beissender Essiggeruch verbreitete sich.

Melinda Wagner warf von oben einen angewiderten Blick auf das Desaster, knallte die Kellertür hinter sich zu und nahm sich die Post vor. Das helle Morgenlicht fiel auf das wacklige und staubige Gartentischchen in der Wohndiele, das als Abstellfläche für Briefe und heimatlose Objekte diente. Sie liess sich etwas schwerfällig auf einen Holzstuhl von zweifelhafter Stabilität nieder und griff nach einer Karte. Eine Kunstreproduktion. «Kinderspiele» von Hieronymus Busch. Auf der Rückseite in schwungvoller Schrift die Grussworte: «Viel Glück beim Spielen, liebe Wagners. Haut Euch im Sandkasten nicht die Plastikkessel um die Ohren! Liebe Grüsse, Euer Pierre.»

Pierre Lamare konnte kein Französisch. Immerhin verstand er es, seinen Namen zu schreiben. Melinda und Richard Wagner nannten ihren langjährigen Freund «Pjotr». Russisch konnten sie alle drei nicht. Was sie verband, war ihre gemeinsame Vergangenheit als Journalisten bei einer Presseagentur und später einer nationalen Tageszeitung, ihre unbändige Neugier, ihr Gerechtigkeitssinn und ihr Bedürfnis, dieser «Gerechtigkeit» durch akribisch recherchierte und kritische Artikel über wirtschaftspolitische Verhältnisse den Weg zu bahnen.

25 Jahre arbeiteten sie zusammen, bis sie sich gegenseitig eingestehen mussten, dass sie sich mit ihrer kompromisslosen Haltung und ihrem bedingungslosen Einsatz nicht mehr mit der wachsenden Zahl von Kollegen anfreunden konnten, die Journalismus als Bürojob mit festen Arbeitszeiten verstehen.

Pjotr kündete und begab ich auf eine lange Weltreise, die ihm «neue Horizonte eröffnen» sollte, wie er hochtrabend verlauten liess und von der er sich nie meldete. Bald waren auch die Namen Melinda Mataré und Richard Wagner im Verbandsblatt in der Rubrik «offen für Neues» vermerkt. Weil sie keine Ahnung hatten, welche Form das «Neue» beruflich annehmen sollte, gestalteten sie ihr privates Leben neu und legitimierten ihre langjährige Beziehung durch Heirat.

Das Ehepaar Wagner hatte das Glück, ein nettes kleines Erbe antreten zu dürfen, bevor sich die Frage nach der beruflichen Neuausrichtung ernsthaft stellen musste. Seit ein paar Jahren lebten sie nun schon am Rande eines Dorfes in einem idyllischen Hexenhäuschen frei von jeglichem Komfort mit parkähnlichem, verwildertem Umschwung. Das Dorf beobachtete, wie die Mittfünfziger ein geruhsames Frührentnerleben führten. Richard schrieb Kriminalromane und Memoiren, wovon die Dorfbewohner keine Kenntnis hatten, weil die lokale Leibibliothek es nicht für nötig hielt, davon ein paar Exemplare anzuschaffen.

Richard legte einen Gemüsegarten an, der von Jahr zu Jahr mehr zum Rosengarten mutierte und lud häufig zum Essen ein. Er kochte ausgezeichnet, das Angebot an Fleisch und Wein war grosszügig und von bester Qualität, das Gemüse aus dem Garten liess er Beigemüse sein. Seine mangelnde Begeisterung für Gurken und Kürbisse mochte auch auf die Hauptbetätigung von Melinda zurückzuführen sein, die alles Pflanzliche, das einem menschlichen Magen zuträglich ist, sauer, süss und süss-sauer konservierte. Richard behauptete immer, dass er Glasgefässe mit farbigem Inhalt sehr ansprechend finde. Deshalb produzierte Melinda munter weiter und verstopfte Treppen, Tablare und Durchgänge mit ihren Gläsern und Flaschen. Richard wurde nicht müde, jeder neuen Gästeschar zu schildern, wie ein Besucher sich den Fuss verstauchte, als er einem direkt vor der Toilettentür platzierten 30l-Glas Essiggurken ausweichen wollte und sich anschliessend auch noch eine Kolik zuzog, weil er den Inhalt unbedingt versuchen musste. Melindas Präzisierung, zur Kolik habe geführt, dass der Gast gleich sieben grosse Essiggurken gegessen habe, sie ihm also geschmeckt hätten, ging meisten im Gelächter der Gäste unter.

Junggeselle Pjotr hingegen hatte zum Zeitpunkt, als die Wagners sich auf dem Land niederliessen, eine Privatdetektei eröffnet. Die Wagners hatten diese Tatsache derart hysterisch lustig gefunden, dass es eine Flasche Wein und mehrere Cognacs lang dauerte, bis sie sich gegenseitig ausreichend mit Szenarien von Pjotr’schen Räuberjagden und heldenhaftem Aufdecken von Schmugglerringen eingedeckt und die Lachtränen aus den Augen gewischt hatten. Als Richard einen letzten Schuss Cognac nachschenkte, erwogen sie ernsthaft, den Spitznahmen Pjotr durch Dashiell zu ersetzen. Aber weshalb auch einen erfolgreichen Detektivstory-Autor wie Dashiell Hammett posthum beleidigen?

Pjotrs Detektivlaufbahn liess sich so an, dass er sich äusserlich mit Hingabe auf Klischee-Detektiv trimmte. Er kaufte sich einen Trenchcoat, dessen Schösse er beim schneidigen Auftritt wehen liess. Er stellte vom Palmtop auf ein ledergebundenes Notizbuch mit Naturholz-Bleistift um und begann in den Bars der städtischen Nobelherbergen Recherchen anzustellen. Er gedachte nicht Kunden, sondern Fälle zu akquirieren. Er verfasste umfangreiche Dossiers über die führenden Köpfe mafiöser Organisationen und über internationale Finanzgrössen, die den Seiltanz zwischen Recht und Unrecht nicht hundertprozentig beherrschten. Die Individuen in seiner schnell wachsenden Sammlung bezeichnete er als Fadenwürmer. Sobald ein Fadenwurm in Zürich, Paris, London, New York, Moskau zum Einkaufen mit der Geliebten oder zu dubiosen Verhandlungen auftauchte, stellte er ihm nach, bis er ihn einer Rechtsverletzung überführen konnte.

Zu Beginn seiner neuen Karriere war er schon ekstatisch, wenn er einen Verkehrspolizisten überzeugen konnte, dem Fadenwurm eine Parkbusse zu verpassen, die dieser natürlich nie bezahlen würde. Etwas ambitiöser geworden, begann er eine lockere Kooperation mit der Kantonspolizei Zürich. Er wusste, wem er zu melden hatte, wenn die Bodyguards eines von ihm scharf Bewachten einen zufällig im Weg Stehenden blutig «geschubst» hatten. Nachdem er ein Jahr lang in lockerer Folge und auf eigene Kosten bedeutenden Fadenwürmen die Freude an der Schweiz leicht gemindert hatte, fanden sich ungenannt sein wollende Sponsoren, die ihm die Mittel zur Verfügung stellten, den Fadenwürmern die Freude nachhaltig zu verderben. Nicht nur in der Schweiz, sondern global. Pjotr störte sich nicht daran, dass seine «Mittel» nicht immer ganz legal waren. Internationales Recht und gute Anwälte schaffen Spielraum.

Der Kampf gegen den Fadenwurm erfordere harte Bandagen, dozierte er den Wagners, die nun nicht mehr lachten, sondern gespannt hinhörten und Wein und Cognac nachschenkten. Einmal, bevor sie den Freund auf den Weg in sein nächstes Abenteuer entliessen, zerrte ihn Melinda vor eine Videokamera, schalt im beim Abspielen des Bandes auf dem Monitor eine «lächerliche Figur», einen «eitlen Gecken» und entsorgte erbarmungslos Trenchcoat, Schlapphut und Sonnenbrille. Es geht eben nichts über einen Freundschafsdienst.

Erwachsene Menschen mögen noch lernfähig sein, aber ändern können sie sich nicht. Der gesponserte Detektiv Lamare lebte die Hollywood-Version seines neuen Berufsstandes, wie er zuvor die des Journalisten als kettenrauchend, trinkfest und rund um die Uhr am Ball interpretiert hatte. Er kaufte sich einen neuen Trenchcoat, trug ihn – ob als Konzession an Melinda oder als Zeichen seines zunehmenden Erfolgs sei dahingestellt – ordentlich zugeknöpft, summte unermüdlich wie eine Biene durchs Leben und die Welt, liess sich hier und dort auf hübschen Blumen nieder und sammelte fleissig Informationen statt Nektar. Wem die Informationen zum Nachteil wurden, der hatte nichts zu lachen.

Melinda sinnierte über der Postkarte, bis ihr der Essiggeruch in die Nase geriet, der sich offenbar wie eine Rauchschwade vom Keller gegen oben im Haus ausbreitete. Was sollte diese Grussbotschaft Pjotrs bedeuten? War sie als boshaft präsentierte Liebenswürdigkeit oder aber als liebenswürdig verpackte Boshaftigkeit zu interpretieren? Liebenswürdig wäre die Aussage, dass die Wagners das Privileg hatten, sich zu lieben und in Ruhe ihren Hobbys frönen, also glücklich wie Kinder im Sandkasten spielen zu können. Boshaft wäre die Aussage, dass aus dem jungen, dynamischen Journalistenpaar zwei langweilige Rentner geworden waren, deren geistiger Radius sich auf Sandkastenformat verengt hatte. Pjotr war ein Freund, aber seine Sticheleien konnten schmerzen. Melinda starrte durch das mit Fliegendreck besprenkelte Fenster ins Leere, dann gab sie sich einen Ruck und knallte die Karte so heftig auf den Gartentisch, dass er schepperte. «Nicht mit uns», schrie sie durch die Stille des Hauses. Der schwarze Kater auf der Eckbank richtete erschrocken seine Fledermausohren auf und schaute Melinda verwundert aus untertassengrossen Bernsteinaugen an.

Zwei

«Ich habe mir letzte Nacht überlegt, was ich über Weltereignisse weiss. Ich meine, was habe ich an überprüfbaren Fakten, wenn ich in einer Talkshow zum Beispiel über den Golfkrieg 1991 mitdiskutieren sollte? Das beschäftigt mich, Melli. Ich könnte nur Plattitüden und Gerüchte von mir geben, wie jeder Stammtischler», sagte Richard, der einen von Curry triefenden Kochlöffel über drei brodelnden Töpfen auf dem Herd balancierte.

«Stimmt, an die Wahrheit kommen wir nicht heran, aber immerhin hast du das Privileg, dir die halbe Naht darüber Gedanken machen zu können, weil du am nächsten Morgen nicht um 7 Uhr in den Stollen musst», sagte Melinda und schnappte dem weissbeschürzten Gatten den Löffel weg: «Zu viel Salz, zu wenig scharf». Richard setzte kommentarlos den Pfannendeckel auf den Topf. Aus den Augen, aus dem Sinn. Weiter zu Pesto und Tomatensauce: «Was meinst du?»

Melinda degustierte den Pesto und riss begeistert die Arme hoch. «Hundert Punkte, mein Grizzly. Und – ich habe mir auch etwas überlegt. Journalismus ist für uns doch aus und vorbei. Was sollen wir noch versuchen, geopolitische Interessen einzuordnen? Wenn ich mir täglich die Nachrichten – egal aus welchem Kanal – zuführen muss, kriege ich glatt eine Gürtelrose. Komm, wir brauchen eine neue Aufgabe.»

«Was hast du eigentlich, Melli? Seit Pjotr diese idiotische Karte geschickt hat, bist du ganz durcheinander. Lockt dich die weite Welt? Langweilst du dich? Hier? Mit mir? Und was willst du jetzt zum Pesto? Spaghettini oder Linguine?»

«Blödmann. Ich will keine Nudeln, ich will dich. Und ich will mit dir etwas ganz Neues unternehmen. Pjotr, der begabte Schleimer, muss die Detektivarbeit als Aufgabe ja nicht für sich allein gepachtet haben. Das können wir auch. Erste Aufgabe: Wie genau hat sich unser Freund den Erfolg gebucht? Was läuft hier ab? Wo in aller Welt – im wahrsten Sinn des Wortes – treibt er sich herum und wer bezahlt ihn wofür? Und falls wir herausfinden, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, schreibst Du darüber den ultimativen Kriminalroman.»

«Oha! Journalismus ade. Aber immer noch die berufliche Vorgehensweise. Schön gestellte W-Fragen, Kollegin. Was muss ich dem guten Pjotr nachstellen, um zu guten Romanideen zu kommen? Traust du mir nicht genügend Fantasie zu? Ich mache Linguine. Willst du einen Rucola-Salat dazu? Ich habe da einen alten Balsamico gefunden. Aus dem Fass. Tolle Duftnote. Schenkst du schon mal einen Campari ein? Melli? Melinda!!»

drei

«In dieser Küche duftet es herrlich. Aber von irgendwo her stinkt es. Na, holde Melinda?» Wie immer, dachte Richard. Ein überraschend auftauchender Pjotr, der unverschämte Bemerkungen machte, sich wie zu Hause fühlte, ohne sich im Geringsten zu erklären und der es auch noch zustande brachte, Melinda aus ihrer Schmollecke herauszuholen. Na gut, vielleicht fühlte sie sich auch nur verpflichtet, aufgestellt zu wirken. Oder sie empfand es als Zeichen des Schicksals, dass Pjotr genau jetzt auf der Bildfläche erschien, wo sie den Entschluss gefasst hatte, ihn zu beobachten, wenn nicht gar zu konkurrenzieren. Richard musste innerlich grinsen. Diese ewig gleiche Gruppendynamik. Der schillernde Pjotr: Ein Verschnitt zwischen David Niven und Clark Gable und damit auch hoffnungslos datiert und – wenn es nach Richard ginge – auch ausrangiert.

Geneigte Leserinnen und Leser (hallooo…ist da wer?),
«Jahrtausendwende 1999» hätte eine lange Geschichte werden können. Aber für die Schreibende ist sie datiert und ausrangiert. Wer zu wissen glaubt, was die drei Protagonisten in den letzten 17 Jahren – nach Melindas Aufbruchsstimmung 1999 – Denkwürdiges angestellt haben, möge den Federkiel in blaue Tinte tauchen, die Fantasie walten lassen und auf einem Beginn ein bleibendes und hoffentlich möglichst kriminelles Roman-Werk aufbauen und niederschreiben.